„Gedächtnis(t)räume“ – Malerei von Walerija Beitman im Schloss Hungen vom 14.-29. Juni 2025
Teilweise großformatige Malerei können derzeit die Besucher im Schloss Hungen im ehemaligen Pferdestall erleben. Am Samstag fand die gut besuchte Eröffnung der Ausstellung von Walerija Beitman statt.

In den Bildwerken der Künstlerin durchdringt ein klares, helles Licht von oben den Bildraum und schafft eine außergewöhnliche Tiefendimension. Diese Lichtführung erzeugt eine präzise Raumtiefe, die eine erstaunliche Anziehungskraft auf den Betrachter ausübt. Im Zusammenspiel mit dem Farbauftrag hebt das Licht architektonische Elemente aus der Dunkelheit hervor: Rundbögen, gerade Flächen, Bodenflächen sowie eckige Säulen und Pfeiler, die nach oben streben. Diese architektonischen Elemente bestimmen den Bildeindruck maßgeblich. Während manche Bildteile in deutlicher Klarheit dargestellt sind, bleiben andere nur flüchtig angedeutet und konturlos. Sie verschmelzen mit dem sie umgebenden, leuchtenden Farbraum und tendieren zur Auflösung. Einzelne Bereiche wirken verschwommen und verkörpern etwas Unbestimmtes. Aus der Entfernung betrachtet erscheinen die Werke wie andächtige, fast erhabene sakrale Orte. Tatsächlich zeigen diese Gemälde Innenräume von Synagogen – Bauwerke, die Beitman durch ihren lichterfüllten Farbauftrag künstlerisch erschaffen hat, die jedoch in der Realität nicht mehr existieren. Die dargestellten Orte gibt es nicht mehr. Die Synagogen wurden wie viele andere in der Reichspogromnacht von 1938 zerstört. Als Grundlage für ihre Bilder verwendete die Künstlerin kleine, historische Schwarzweißfotografien.

Aus einiger Entfernung können wir uns gedanklich in diese Bildräume hineinbegeben und den Ort in seiner Gegenständlichkeit erfassen. Treten wir jedoch direkt vor das Bild, löst Beitmans malerische Bildsprache die geschaffene Illusion wieder auf. Der spielerische Farbauftrag, die unbestimmte Flächengestaltung und das Wechselspiel mit der Lichtführung lassen die konkreten Bildelemente in den Hintergrund treten. Die Künstlerin erschafft mit malerischen Mitteln eine Gleichzeitigkeit von Bildwirkung und deren Aufhebung – eine unauflösbare Spannung. Wir erleben den Eindruck des sakralen Innenraums, der bei näherer Betrachtung durch die malerischen Mittel wieder entschwindet.

Beitman zeigt uns den sakralen Raum und konfrontiert uns zugleich mit dessen Verlust. Im Spiel der Farbgestaltung wird das Verlorene thematisiert und in eine fragmentarische Präsentationsform überführt. Der künstlerische Arbeitsprozess präsentiert eine klare Mehrdeutigkeit, die im Kunstwerk selbst festgehalten ist und vom Betrachter ausgehalten werden muss. Diese durch malerische Farbgestaltung und Lichtführung entstehende Mehrdeutigkeit ist außerordentlich bemerkenswert. Was verloren und vergangen ist, widersteht im Gemälde als fragmentarisches Moment und kann dadurch in unseren Erinnerungsprozess eintreten. Dies gelingt Beitman auf eindrucksvolle und meisterhafte Weise. Das vergangene Dasein wird durch künstlerische Mittel in mehrdeutiger Präsentationsform und unauflösbarer Spannung in der Gegenwart gehalten und bewahrt. Der geschaffene Bildeindruck ist in ständiger Bewegung – eine Auseinandersetzung mit Verlust und Rekonstruktion, die Blickmomente für stille Betrachtung schafft und verdeutlicht, was wiedersteht und was für immer verloren ist.

Beitmans Werke können uns helfen, eine andere Gegenwärtigkeit in unsere Muster aus Vergessen, Verdrängen und Erinnerung zu bringen. Ihre malerische Formsprache enthält eine Kritik, die wir lernen können zu sehen und zu verstehen, wenn wir uns an vergessene Orte und Räume erinnern. Das Vergessen wird zur Voraussetzung für das Erinnern, und die Künstlerin zeigt uns einen Weg, kulturelle Orte und Räume wieder zu entdecken – auch solche, die wir nicht kannten, aber erkennen können.
(Text u. Fotos: Frank Sygusch, 17. Juni 2025)
Die Ausstellung ist noch an den beiden kommenden Wochenenden, jeweils am Samstag und Sonntag von 16.00 – 18.00 Uhr geöffnet. Am 21. und 29. Juni ist die Künstlerin, Walerija Beitman anwesend.