Schlossgruppe Hungen (1974) und Freundeskreis Schloss Hungen e.V. (1976) – Fünf Jahrzehnte denkmalpolitische Praxis und Wechselwirkungen im Kulturprojekt „Wohnen im Denkmal“

Die Gründung des Vereins 1976

Auf der Grundlage einer gemeinsamen Vision entstanden zwei komplementäre Konzepte: Bereits 1974 formierte sich ein gemeinschaftliches Wohnprojekt mit Selbstverwaltung, dem 1976 die Gründung eines offenen Kulturkonzepts in Form eines gemeinnützigen Vereins folgte. Im Zentrum beider Initiativen steht ein Baudenkmal (Schloss Hungen), dessen gemeinschaftliche Nutzung die Rahmenbedingungen für die Zweckbestimmung des öffentlichen Kulturvereins definiert. Obwohl zeitlich versetzt entwickelt, verkörpern beide Ideen und Konzepte die ursprüngliche Vision einer integrierten Lebens- und Kulturgemeinschaft, die sich als gemeinsame kulturelle Aufgabe versteht.

Das Gründungsprotokoll vom 20. November 1976 mit den Gründerinnen und Gründern des Vereins: Otto Fresenius, Walter Krüger, Peter Marlin, Jochen Amthor, Rainer Ehl, Wiltrud Krüger, Götz-Rüdiger Otto, Walter von Bebenburg, Adolf Hampel. Ulrich Stiehl, Maria Stiehl
Das Gründungsprotokoll vom 20. November 1976 mit den Gründerinnen und Gründern des Vereins: Otto Fresenius, Walter Krüger, Peter Marlin, Jochen Amthor, Rainer Ehl, Wiltrud Krüger, Götz-Rüdiger Otto, Walter von Bebenburg, Adolf Hampel. Ulrich Stiehl, Maria Stiehl

Von der Idee zur Vision

Am Anfang stand die Idee einen Kulturverein zu gründen. Aus dieser wegweisenden Gründungsidee entstand der „Freundeskreis Schloss Hungen e.V“. Und aus dessen Zweckbestimmung – über die Förderung von Kultur und Kunst zum Erhalt des Denkmals „Schloss Hungen“ beizutragen – entwickelte sich kontinuierlich eine klare Vision.

Satzung des Vereins
Gründungssatzung des Vereins vom 20. November 1976

Eine wesentliche Grundlage dieser dynamischen Gründervision ist der Gedanke, dass sich das gemeinsame „Wohnen im Denkmal“ als eine kulturelle Aufgabe versteht und als selbstverwaltetes Projekt organisiert ist, um „die Voraussetzungen für die Pflege des Gemeinschaftscharakters der Gruppe (Gruppenprozess) sicherzustellen“.
Im Hinblick auf diese Sozialziele eröffneten die konkreten Ausgestaltungen der Vision neue Nutzungswege im Umgang mit dem Baudenkmal. Eine Initiative aus der Schlossgruppe regte an, Gemeinschaftsräume im Schloss zu schaffen und zu renovieren, um diese dem Stadtraum zugänglich zu machen, indem der Freundeskreis die Öffentlichkeit zu Veranstaltungen und Festen in das Schloss einlud. So öffnete das private Wohnprojekt, durch die Gründung eines Vereins, gesellschaftliche Räume, und das Denkmal samt seiner Geschichte wurde Teil eines offenen Kulturkonzepts vor dem Hintergrund einer Theorie des Sozialen.

 Initiativgruppe Pferdestall, 1978
Initiativgruppe Pferdestall, 1978

Neue Perspektiven für das Baudenkmal

Damit veränderten sich auch die Nutzungsanforderungen des Baudenkmals sowie die Wahrnehmung des historischen Ortes und seiner verschiedenen Nutzungsgeschichten. Der Denkmalschutz sollte im Alltag mehr sein als eine bloße Verwaltung von Geschichte. Im praktischen und kulturellen Zugang zum Denkmal – sei es bei Theaterveranstaltungen im Innenhof des Schlosses, bei Konzerten, Vorträgen und Lesungen im „Blauen Salon“, bei Ausstellungen im „Pferdestall“ oder bei Festen auf dem Schlossgelände und im Schlossgarten – werden an den Veranstaltungsorten stets auch die historischen Dimensionen des Baudenkmals als Ort der Geschichte repräsentiert und im kulturellen Ereignis erlebbar gemacht.

Das „Schloss Hungen“ als gemeinschaftlicher Wohnort wird dadurch zu einem lebendigen Kulturdenkmal transformiert und zu einem öffentlichen Raum der gesellschaftlichen Begegnung im gegenwärtigen Stadtraum von Hungen. Der Erhalt des baukulturellen Erbes und die Präsentation des Denkmals mit seiner Geschichte im öffentlichen Raum schaffen einen unverwechselbaren Stadtraum und regen immer wieder dazu an, über die baukulturelle Identität nachzudenken.

Blauer Salon Beitrag Einweihung
„Der blaue Kachelofen im Blauen Salon gab dem Ganzen die Wärme und den Namen“, Gießener Anzeiger vom 25. Mai 1982
„Der blaue Kachelofen im Blauen Salon gab dem Ganzen die Wärme und den Namen“, Gießener Anzeiger vom 25. Mai 1982

Die Schlossgruppe und der Kulturverein „Freundeskreis Schloss Hungen e.V.“ bieten gemeinsam das Baudenkmal Schloss Hungen als historischen Orientierungspunkt an, der gleichzeitig als lebendiger Erfahrungsort für die kulturelle Bildung und persönliche Teilhabe genutzt werden kann. Es zeigt sich, dass die Geschichte des Schlosses Hungen mit seinen erhaltenen baugeschichtlichen Formen und Elementen eine verbindende Linie aus der Vergangenheit in die Zukunft zieht, da das baukulturelle Erbe in der Gegenwart als Ganzes bewohnbar und erlebbar ist und dem Ort seine unverwechselbare Individualität verleiht.

Blick vom Turm auf den Kanzleibau
Blick vom Turm auf den Kanzleibau

Gemeinschaft und Partizipation

Die Möglichkeiten der direkten Teilhabe und Partizipation im Gruppenprozess (Versammlung als Ort der Aktualisierung souveräner Gewalt) sind die wesentlichen Strukturmerkmale des gemeinschaftlichen Wohnprojektes und prägen auch nach 50 Jahren das Spannungsfeld und die Rahmenbedingungen der gemeinsamen Wohnidee. Das Wohnen im Denkmal und die Erhaltung und Gestaltung des Baudenkmals und des Gartengeländes werden weiterhin gemeinschaftsorientiert und prozesshaft als soziale Gruppe organisiert und koordiniert. So wie in jeder Wohnung im Baudenkmal eine einzigartige und individuell gestaltete Wohnumgebung entstanden ist, so wird auch die Individualität ihrer Bewohner durch die Qualität der Verbindungen innerhalb der Wohngruppe – am Ort des Geschehens – zum Ausdruck gebracht.

Blick von Terrasse am Neuen Saalbau in den Vorhof des Schlosses
Blick von Terrasse am Neuen Saalbau in den Vorhof des Schlosses

Was ist eine Schlossgruppe und was ist eine Schlossgruppensitzung?

In unserer Miteigentümergemeinschaft wird der Versammlung der Miteigentümer als dem Souverän die höchste Autorität zugesprochen. Der Souverän verkörpert die Einheit nach innen und außen. Seine Selbstorganisation und seine Entscheidungsgewalt sind über eine verfasste Ordnung geregelt, die alle Miteigentümer an die Versammlung (und das Wohnungseigentumsgesetz) bindet.

Die Versammlung findet an einem Ort der Deliberation statt, damit Ansichten und Meinungen zu Argumenten ausformuliert werden können. Einsichten und Positionen werden dargelegt und Entscheidungsfindungsprozesse durchgeführt, um notwendige Beschlüsse für die Gemeinschaft zu fassen.

Der Ort der Versammlung als Deliberationsprozess

Da sich der Prozess der Deliberation und Entscheidungsfindung nur am Ort der Versammlung vollziehen kann, fallen der Ort der Entscheidungsfindung (die Sitzung) und die entscheidende Instanz (die Versammlung) zusammen.

Da die Versammlung selbst der Souverän ist, entsteht an dieser Stelle eine konzeptuelle Spannung. Der Ort der Diskussion wird zum performativen Moment der Aktualisierung der souveränen Gewalt und nicht zu einem separaten institutionellen Raum. Es ist der Ort der Deliberation, der den strukturierten Raum bezeichnet – sowohl physisch als auch konzeptuell – in dem der demokratische Diskurs stattfindet.

Treppenhaus im Neuen Saalbau
Treppenhaus im Neuen Saalbau

Die Doppelrolle der Versammlung als Souverän und Deliberationsort

Der Kerngedanke bezieht sich auf ein grundlegendes Spannungsverhältnis im Hinblick auf Überlegungen zur Gestalt und Ausübung der Souveränität, das sich präziser darstellen lässt: In klassischen Repräsentationstheorien werden typischerweise zwei Sphären unterschieden: einerseits der Souverän (das Volk, die Bürgerschaft) und andererseits die Institution der Deliberation (das Parlament, die Versammlung). Diese werden als getrennte Sachverhalte konzipiert.

Die angesprochene konzeptuelle Spannung entsteht genau dann, wenn die Versammlung selbst nicht mehr als vom Souverän abgeleitete Institution verstanden wird, sondern als direkte Verkörperung des Souveräns. In diesem Moment fallen zwei eigentlich getrennte Konzepte in eins:



  1. Die Versammlung ist nicht mehr bloß ein Ort der Repräsentation souveräner Gewalt.
  2. Die Versammlung wird stattdessen zum Ort der Aktualisierung souveräner Gewalt.
Blick von Gelas Gärtchen auf den Turm
Blick von „Gelas Gärtchen“ auf den Turm

Natürlich hängt die Qualität der inhaltlichen und thematischen Diskussionen und Entscheidungen sehr stark davon ab, auf welche Art und Weise und mit welchen Verfahren eine Verwaltung mit Beirat die notwendigen Themen vorbereitet. Hierbei können Elemente von formellen parlamentarischen Strukturen bis hin zu informelleren Gruppentreffen innerhalb der Schlossgesellschaft als Hilfsmittel eingesetzt werden.
Es ist wichtig, alle Eigentümer von Anfang an bei Ideen und Vorplanungen einzubinden und transparent zu kommunizieren – insbesondere wenn es um weitreichende Entscheidungen für die Eigentümergemeinschaft geht.

Entscheidend ist, dass alle Schritte und Teilräume des inhaltlichen Austausches allen Mitgliedern der souveränen Gemeinschaft zugänglich sind und die Diskussionen nach fairen Regeln geführt werden.

Die Versammlung beziehungsweise die „Sitzung der Schlossgruppe“ unterscheidet sich vom parlamentarischen Modell, bei dem das Parlament als repräsentative Institution fungiert, ohne selbst Souverän zu sein. In unserem Schlossgruppen-Konzept hingegen konstituiert die Versammlung der Miteigentümer den Souverän, der aktiv deliberiert und entscheidet.

Blüten im Schlossgarten
Blüten im Schlossgarten

Die Zusammenarbeit mit dem Kulturverein „Freundeskreis Schloss Hungen e.V.“ ist bis heute ein wesentlicher Bestandteil und ein fest verankerter Baustein im Selbstverständnis und Konzept der Schlossgruppe.
Die nachhaltige Erhaltung und Entwicklung des Vereins hat sich über nahezu fünf Jahrzehnte bewährt, und die Vision der Gründungsidee hat sich als tragfähig erwiesen. In Kooperation mit der Schlossgruppe wird es in 2025 und im Jubiläumsjahr 2026 des Vereins ein Kulturprogramm geben in dem u.a. auch das regelmäßig stattfindende Kinderschlossfest als Ausdruck einer gewachsenen und erfolgreichen Zusammenarbeit zusammen mit der Stadt Hungen geplant und gefeiert werden wird.

(Text und Fotos: Frank Sygusch)

 Foto vom Kinderschlossfest mit tanzenden Kindern und Musik
Kinderschlossfest mit tanzenden Kindern und Musik im Innenhof des Schlosses